B. Trachtenberg: The Holocaust and the Exile of Yiddish

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Titel
The Holocaust and the Exile of Yiddish. A History of the Algemeyne Entsiklopedye


Autor(en)
Trachtenberg, Barry
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S., 24 farb. Abb.
Preis
$ 37,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne-Christin Saß, Berlin

„Di Algemeyne Entsiklopedye“ (Die Allgemeine Enzyklopädie) und ihre Entstehungsgeschichte stehen im Fokus von Barry Trachtenbergs Studie. Neben einer detailreichen und fundierten Nachzeichnung dieses ambitionierten jiddischsprachigen Wissensprojektes, das von 1930 bis 1966 in Berlin, Paris und New York entstand, bietet diese Arbeit gleichzeitig einen tiefen Einblick in das nationale Gemeinschaftsprojekt osteuropäisch-jüdischer Intellektueller, das durch die Shoah einem radikalen Wandel unterworfen war. Was zu Beginn als moderne „Bibel für ein neues Zeitalter“ (Simon Dubnow) geplant war und einer jiddischsprachigen Leserschaft die neuesten Erkenntnisse aus den Bereichen der Geschichte, Geographie, Demografie, Biologie, Wirtschaft und Politikwissenschaft nahebringen sollte, wurde in den letzten Bänden zu einem gewichtigen Zeugnis jiddischer Kultur und zu einem Erinnerungsprojekt an die Shoah beziehungsweise zu einem Versuch, neue Wege in die Zukunft zu beschreiten. Oder, wie Trachtenberg es selbst in seinem Schlusswort zusammenfasst: Die 12-bändige Enzyklopädie “is an unrivaled depiction of how Yiddish cultural and intellectual activists tenaciously responded to the hopes, traumas, and triumphs of the middle decades of the twentieth centuries, when they went from achieving their greatest accomplishments to suffering their most profound losses, and then sought to chart a new path forward to the future“ (S. 202).

Um die Entstehungsgeschichte der Enzyklopädie nachvollziehen zu können, folgt Trachtenberg in drei Hauptkapiteln den Initiatoren und Autoren in den drei Entstehungsorten Berlin (1930–33), Paris (1933–40) und New York (1940–66). Dabei entfaltet er jeweils ein dichtes Bild dieser drei „jüdischen Zentren“ und ihrer Wechselwirkungen im Kontext des Enzyklopädie-Projektes.

Im ersten Kapitel „A Bible for the New Age: Berlin, 1930–1933” bündeln sich wie in einem Brennglas die in der Hauptstadt der Weimarer Republik geführten Debatten osteuropäisch-jüdischer Emigranten um konkurrierende Identitätsentwürfe und Diaspora-Konzepte, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch gleichberechtigt nebeneinanderstanden.1 Dem russisch-jüdischen Historiker Simon Dubnow als prominenter Vertreter eines jüdischen Diaspora-Nationalismus kam auch in diesem Projekt eine Schlüsselrolle und zentrale Integrationsfunktion zu. So ließen sich unter dem Banner des Diaspora-Nationalismus die unterschiedlichen ideologischen Positionen der im Projekt versammelten jiddischsprachigen intelligenzija vereinen. Im Februar 1931 einigten sich die Initiatoren schließlich auf die Erstellung einer allgemeinen 10-bändigen Enzyklopädie in jiddischer Sprache, die den wachsenden kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen der „jiddischen Massen“ Rechnung tragen und alle Wissensbereiche abdecken sollte. Ein Ergänzungsband sollte jüdischen Themen vorbehalten sein. Wenngleich diese Ankündigung in der jiddischsprachigen Presse im östlichen Europa zunächst sehr positiv besprochen wurde, zeigten sich in den Folgemonaten größere Schwierigkeiten. Diese betrafen zum einen die Finanzierung des Projekts wie auch die konkrete Auswahl und Gestaltung der Themen und Inhalte. Die zwei 1932 veröffentlichten Probehefte stießen einerseits inhaltlich auf ein positives Echo, warfen andererseits aber auch die Frage auf, inwieweit ein solches Unternehmen in Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus und wachsender Diskriminierung den tatsächlichen Bedürfnissen der jüdischen Massen Rechnung trage.

Mit der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 kam das Projekt in Berlin zu einem jähen Ende. Die Mehrzahl der am Projekt beteiligten Personen fand Exil in Paris, wo in den Folgejahren die ersten sieben Bände der Enzyklopädie erschienen.

In seinem zweiten Kapitel „Man Plans, and Hitler Laughs, Paris 1933–1940“ beschreibt Trachtenberg daher intensiv die Verzweiflung, aber auch die Beharrlichkeit der Herausgeber und Autor:innen, wie Leon Bramson, Elias Tscherikower, Daniel Charney, Avrom Kin sowie Rahel und Mark Wischnitzer, trotz der immer prekärer werdenden eigenen Lebenssituationen das Projekt weiter voranzutreiben. Während die ersten fünf Bände der Ursprungsintention folgten und allgemeinen Themen gewidmet waren, erschien 1939 der erste Band der ergänzenden Reihe „Yidn“ (Juden). Die Herausgeber begründeten diesen Schritt damit, dass es notwendig sei, ein Forum zu schaffen, um aktuelle jüdische Probleme zu bündeln und die Leser in die Lage zu versetzen, die Entwicklung des jüdischen Volkes bis in die Gegenwart zu verstehen (S. 116f.). Insbesondere der erste Band „Yidn alef“ enthält eine Reihe von Einträgen, die die jüdischen Diaspora-Erfahrungen über die verschiedenen Epochen kraftvoll verteidigen und als Gegenreaktion zum Aufstieg der zionistischen Bewegungen in Europa gelesen werden können. 1940 erschien der zweite Band „Yidn beys“ der eine neuerliche Erweiterung des Projektes markierte. Im Mittelpunkt dieses Bandes stehen religiöse und kulturelle Entwicklungen der jüdischen Geschichte, deren vornehmlich männliche Autoren – anders als in den Bänden zuvor – nicht nur aus dem nationaljüdischen Spektrum kamen, sondern die gesamte Bandbreite jüdischer Positionen vertraten und dies auch in den Artikeln deutlich artikulierten. Einer der prominentesten Autoren war Gershom Scholem, der Artikel zum Jüdischen Mystizismus und den messianischen Bewegungen nach der spanischen Vertreibung im Jahr 1492 beisteuerte.

Der Überfall auf Polen und die Besetzung Frankreichs nur wenige Wochen nach dem Erscheinen des zweiten Bandes durch die deutsche Wehrmacht führten dazu, dass die Publikation kaum Beachtung fand und die in Paris lebenden Autoren und Herausgeber wie viele andere jüdische Exilanten versuchten, in die USA zu emigrieren. Die Hindernisse waren aber enorm, da die USA eine Reihe von Unterlagen verlangten, die kaum zu bekommen waren. Wie Trachtenberg überzeugend herausarbeitet, waren es die engen Verbindungen der Herausgeber zu prominenten Vertretern der jüdischen Arbeiterbewegung in den USA, wie zum Beispiel Rafail Abramovitch, die es ermöglichten, dass viele Mitarbeiter der Enzyklopädie Notvisa erhielten und sie im Spätsommer 1940 über Marseille und Lissabon in die USA ausreisen konnten.

Im dritten Kapitel „Spinning the Historical Threads, New York 1940–1966” beleuchtet Trachtenberg die neuen Herausforderungen und Schwierigkeiten, mit denen sich die Mitarbeiter der Enzyklopädie in den USA konfrontiert sahen. Einerseits waren sie nun sicher und lebten in New York, einer Stadt mit einer großen jüdischen Community, die bereit war, das Projekt zu unterstützen. Andererseits realisierten sie in den USA, dass in der Shoah die jiddischsprachige Leserschaft im östlichen Europa ermordet und ihre Kultur zerstört worden war. Neben Simon Dubnow, der 1933 zwar von Berlin nach Litauen emigriert war, 1941 aber in Riga ermordet wurde, überlebten auch andere Mitarbeiter der Enzyklopädie, wie zum Beispiel Moishe Shalit, Majer Balaban, Zalman Reisen oder Zelig Kalamanovitch den khurbn nicht.

Nach dem Ende des Krieges wandelte sich damit die Ausrichtung der Enzyklopädie vollständig. Die New Yorker Gruppe um Rafael Abramovitch, Jakob Lestschinsky, Avrom Menes und Avrom Kin definierte die folgenden vier Aufgaben für sich: die Rettung der kulturellen Schätze Osteuropas, die Aufrechterhaltung einer transnationalen Gemeinschaft von Jiddischsprechenden, die Dokumentation und das Gedenken an den khurbn sowie die Vermittlung jiddischer Kultur an ein amerikanisch-jüdisches Publikum, das zunehmend Wissen über die osteuropäisch-jüdische Kultur verlor (S. 163f.). Diese Aufgaben wurden in den folgenden Jahren von einer in den USA geborenen Generation von Forschern weiterentwickelt. Bis 1966 erschienen fünf weitere Bände der Reihe „Yidn“. An dieser Stelle sind besonders die beiden khurbn-Bände, „Yidn vov“ und „Yidn zayen“, hervorzuheben, die einen Meilenstein in der frühen Dokumentation des und Erinnerungsliteratur an den Holocaust darstellen.

Mit seinem klaren Fokus auf die Mitarbeiter der Enzyklopädie, ihre Netzwerke und Eingebundenheit in die transnationalen jüdischen Communities in Europa und den USA stellt Trachtenbergs Studie einen wichtigen Beitrag für die Vielfalt und Wandlungsprozesse jüdischer Identitätskonzepte von der Zwischenkriegszeit bis in die 1960er-Jahre dar. Der quer zu den gängigen Zäsuren liegende Untersuchungszeitraum ermöglicht es zudem, den Blick auf die personellen und ideellen Kontinuitäten zu richten sowie den immensen Wert dieses Enzyklopädieprojektes in einer Zeit der Blüte jiddischer Kultur und ihrer fast vollständigen Zerstörung zu ermessen. Damit geht die Studie weit über den Rahmen einer engen Wissensgeschichte hinaus. Darüber hinaus ist „The Holocaust and the Exile of Yiddish” eine überaus gut geschriebene, lesenswerte Studie, die mit einem Blick fürs Detail und eine tiefgründige Analyse ihres Untersuchungsgegenstandes besticht. Die Lektüre ist uneingeschränkt zu empfehlen.

Anmerkung:
1 Für einen ersten Überblick zum osteuropäisch-jüdischen Berlin seien hier stellvertretend zwei Sammelbände genannt; in den letzten Jahren sind darüber hinaus verschiedene Einzelstudien entstanden. Gennady Estraikh / Mikhail Krutikov (Hrsg.), Yiddish in Weimar Berlin. At the Crossroads of Diaspora Politics and Culture, Oxford 2010; sowie Verena Dohrn / Gertrud Pickhan (Hrsg.), Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2012.

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